Wer ist Freund, wer Feind? 91 Benjamin Schröder Wer ist Freund, wer Feind? Parteien und Wähler in politischer Unsicherheit Im März 1923 unterbreitete ein britischer Wahlkampforganisator der konservativen Partei seinen Kollegen einen recht ungewöhnli- chen Vorschlag: In den letzten 20 Jahren habe er beobachtet, dass die Kinder auf den Straßen, die traditionell »ihre« Kandidaten un- terstützten, indem sie deren Farben trugen und Lieder für sie san- gen, stets auf der Gewinnerseite waren. Ihn interessiere nun, ob die aktiven Parteimitglieder anderswo ähnliche Erfahrungen gemacht hätten. Wenn ja, sei es doch einen Versuch wert, diese Kinder und ihre Begeisterung zu nutzen und sie für eine unterstützende Show zu rekrutieren, die die Kandidaten dann zum Sieg tragen würde.1 Im Rückblick mag dieser Vorschlag seltsam anmuten. Auch die Zeitgenossen schienen nicht sehr angetan, denn es erfolgte weder eine Diskussion darüber noch irgendeine Art von Umsetzung. Doch es gibt gute Gründe, diesen Gedanken vor einem anderen Hintergrund ernst zu nehmen: Es war nur eine von zahlreichen Be- obachtungen und Anregungen zu einem grundlegenden Problem, mit dem sich Politiker und aktive Parteimitglieder nach dem Ersten Weltkrieg konfrontiert sahen. Nach der Erweiterung des Wahlrechts zur Massendemokratie war der politische Prozess viel schwerer steuerbar als vor 1914. Wie sollte eine möglichst effiziente Wahl- kampfstrategie für Wahlkreise von völlig neuer Größe aussehen? Wie konnte man die neuen Wähler, darunter viele Frauen und junge Männer, die zum ersten Mal zur Urne schritten, am besten errei- 1 Thirty-Three Division [Pseudonym], »Some Thoughts on Electioneering«, in: Conservative Agents’ Journal, März 1923, S. 58–60. Benjamin Schröder 92 chen? Wie würde sich das Machtgefüge unter diesen neuen Bedin- gungen verschieben? Solche Fragen stellten sich mit dem Einzug der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern Europas. Sie haben deshalb (explizit oder implizit) auch einen Großteil der historiogra- fischen Arbeiten über diese Epoche beeinflusst. Um beim Beispiel Großbritannien zu bleiben: In detaillierten Studien zeigen David Jarvis und Laura Beers, wie die Wahlagitatoren von Labour und Konservativen ihre Wahrnehmung der neuen Massenwählerschaft justierten und ihre Kommunikationsstrategien auf einfachere und visuell ansprechendere Botschaften umstellten. Denn nach 1918, so Jon Lawrence, ging es im Wahlkampf vor allem darum, die Stimmen der »schweigenden Mehrheit« für sich zu gewinnen.2 Man musste auf die Veränderungen der politischen Landschaft in den 1920er und 1930er Jahren reagieren, durch die der politische Prozess nicht mehr so vorhersehbar war wie zuvor. Laura Beers hat sich unlängst ebenfalls mit diesem Problem befasst und das politische Wettver- halten der Briten in den Zwischenkriegsjahren untersucht: Die meisten, die Wetten auf den Wahlausgang abschlossen, trafen weit daneben. Wichtiger noch ist, dass die Strategen in den Parteizentra- len es als immer schwieriger empfanden, Voraussagen über den Wahlausgang zu treffen. Infolgedessen wuchs die Unsicherheit über die politische Orientierung der Wähler in der Zwischenkriegszeit.3 In diesem Beitrag soll das Thema breiter angegangen werden, nicht nur mit Blick auf Großbritannien. Man könnte von der prin- zipiellen Unsicherheit demokratischer Politik oder, in soziologi-
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فروند است، آیا فایند؟ 91 بنجامین شرودر Wer ist Freund, wer Feind؟ Parteien und Wähler in politischer Unsicherheit Im März 1923 unterbreitete ein britischer Wahlkampforganisator der konservativen Partei seinen Kollegen einen recht ungewöhnli- chen Vorschlag: In den letzten 20 jahrendere dißachbendere. ell »ihre« Kandidaten un-terstützten , indem sie deren Farben trugen und Lieder für sie san-gen, stets auf der Gewinnerseite waren. Ihn interessiere nun, ob die aktiven Parteimitglieder anderswo ähnliche Erfahrungen gemacht hätten. Wenn ja, sei es doch einen Versuch wert, diese Kinder und ihre Begeisterung zu nutzen und sie für eine unterstützende Show zu rekrutieren, die die Kandidaten dann zum Sieg tragen würde.1 Im Rückblick mag anmuteng dieser. Auch die Zeitgenossen schienen nicht sehr angetan, denn es erfolgte weder eine Diskussion darüber noch irgendeine Art von Umsetzung. Doch es gibt gute Gründe, diesen Gedanken vor einem anderen Hintergrund ernst zu nehmen: Es war nur eine von zahlreichen Be- obachtungen und Anregungen zu einem grundlegenden Problem, mit dem sich Politiker und aktivech demitfrontent. Nach der Erweiterung des Wahlrechts zur Massendemokratie war der politische Prozess viel schwerer steuerbar als vor 1914. Wie konnte man die neuen Wähler, darunter viele Frauen und junge Männer, die zum ersten Mal zur Urne schritten, am besten errei- 1 Thirty-Three Division [نام مستعار], »برخی اندیشه ها در مورد انتخابات«, در: Journal, März' Conservative Arrz 1923، S. 58-60. بنجامین شرودر 92 چن؟ Wie würde sich das Machtgefüge unter diesen neuen Bedin-gungen verschieben؟ Solche Fragen stellten sich mit dem Einzug der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern Europas. Sie haben deshalb (explizit oder implizit) auch einen Großteil der historiogra- fischen Arbeiten über diese Epoche beeinflusst. Um beim Beispiel Großbritannien zu bleiben: In detaillierten Studien zeigen David Jarvis und Laura Beers, wie die Wahlagitatoren von Labor und Konservativen ihre Wahrnehmung der neuen Massenwählerschaft justierten und ihre Kommunikationsschaptensuftendere umstellten Denn nach 1918, so Jon Lawrence, ging es im Wahlkampf vor allem darum, die Stimmen der »schweigenden Mehrheit« für sich zu gewinnen.2 س nicht mehr so vorhersehbar war wie zuvor. Laura Beers hat sich unlängst ebenfalls mit diesem Problem befasst und das politische Wettver-halten der Briten in den Zwischenkriegsjahren untersucht: Die meisten، die Wetten auf den Wahlausgang abschlossen، trafen weit daneben. Wichtiger noch ist, dass die Strategen in den Parteizentra-len es als immer schwieriger empfanden, Voraussagen über den Wahlausgang zu treffen. Infolgedessen wuchs die Unsicherheit über die politische Orientierung der Wähler in der Zwischenkriegszeit.3 In diesem Beitrag soll das Thema breiter angegangen werden, nicht nur mit Blick auf Großbritannien. Man könnte von der principiellen Unsicherheit demokratischer Politik oder, in soziologi-
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